Die ungleiche Arbeitsverteilung in der Partnerschaft

Ein Fallbeispiel aus der Paartherapie: Die ungleiche Arbeitsverteilung in der Partnerschaft.

"Vor Corona war alles anders“. Dieser Satz spulte sich in einer Endlosschleife in Annikas Kopf ab. Sie behielt ihn sehr lange für sich und beobachtete dabei ihren Mann Sebastian, wie er morgens nach dem Aufstehen, nach einem sehr kurzen Abstecher ins Bad, in der Jogginghose in seinem Arbeitszimmer verschwand. Ihre Arbeit dagegen fand am Küchentisch in der Wohnküche statt. Von dort aus war sie zwischen ihren Videokonferenzen Ansprechpartner für ihre beiden pubertierenden Kinder, für deren Schulvorbereitung, Hausaufgabenbetreuung, Streitereien, Essenswünsche und ähnliches. Zudem fungierte sie als Fahrdienst für deren außerschulischen Sport- und Instrumentalunterricht. Auch die Wocheneinkäufe, die Wäsche und die Koordination der Reinigungskraft (und das Putzen, falls diese verhindert war) zählte zu ihrem Aufgabenbereich.

Ist sie undankbar?

Sie wollte Sebastian nicht Unrecht tun, für einen Mann in seiner Position und mit seinem Einkommen, brachte er sich viel in seine Familie ein. Nachdem sie wieder nahezu Vollzeit arbeitete, war er jeden Freitag nur noch bis maximal mittags tätig, und bezahlte zudem die Reinigungskraft. Dadurch konnte sie immerhin am Freitag ungestört so lange arbeiten wie sie wollte und musste. Dafür erwartete Sebastian allerdings, dass sie die anderen Tage komplett ohne ihn bestritt. Falls Sie an diesen Tagen Unterstützung benötigte, musste sie sich um externe Hilfen bemühen.

Aber seit Corona war alles anders. Sebastian kümmerte sich weiterhin am Freitag um Kinder und Essen, aber die Woche hatte noch so viel mehr Tage und die musste Annika alleine bestreiten. Sie hatte auch kein eigenes Arbeitszimmer und musste sich ins Schlafzimmer zurückziehen, um wenigstens freitags ungestört arbeiten zu können. Damit das bei den Videokonferenzen nicht auffiel, verbarg sie das Bett hinter einem Paravan.

Die stille Unzufriedenheit

Es gab Tage, da war Annika den Tränen nahe. Die Kinder ließen ihren ganzen Pubertäts-, Schulfrust und Liebeskummer an ihr aus und sie kam mit ihrer Arbeit kaum voran, weil sie ständig gestört wurde. Zudem fiel auch wesentlich mehr Haushalt an, weil sich Sebastian und sie überwiegend zu Hause aufhielten, und auch nicht mehr in der Kantine aßen. Und ihr Mann? Der kam ganz zufrieden zum Essen, und in ihren Augen sogar erholt aus seinem Büro heraus. Sie hatte manchmal den Verdacht, dass er in seinem Zimmer nicht nur arbeitete. Bei solchen Gedanken kam sie sich richtig unfair vor und hörte dann die Stimme ihrer Mutter: „Kind, du hast es gut: du darfst in deinem Beruf arbeiten, du brauchst keine Existenzängste zu haben, dein Mann ist freundlich und kümmert sich sogar jeden Freitag um die Kinder.“

Die schleichende Entfremdung

Die ursprünglichen Dates mit Sebastian fielen zunehmend aus. Vor Corona gingen sie am Samstag oft schick essen, trafen sich mit Freunden, tanzten in ihren Lieblingsclubs, besuchten das Theater oder Kino und hatten danach guten Sex. Nachdem die ganzen aushäusigen Aktivitäten so lange wegfielen und sie Sebastian in seinem etwas nachlässigen Freizeitlook nicht mehr so anziehend fand, hatte sie auch immer weniger Lust auf körperliche Nähe mit ihm. Sie war auch viel zu erschöpft und genervt für Sex. Es schien Sebastian nach anfänglichen Beschwerden nichts mehr auszumachen. Er kommentierte Annikas körperlichen Rückzug immer weniger und stellte auch flüchtige Berührungen mit der Zeit ein.

Der Gefühlsausbruch

Nach einem langen, und durch vielfältige Störungen durchsetzten Arbeitstag, machte sich Annika bei einem gemeinsamen, von ihr gekochten Abendessen, Luft: „Vor Corona war alles anders!“ Sebastian und die beiden Kinder sahen Annika erstaunt an, und zwar weniger wegen dem ja völlig nachvollziehbaren Satz, sondern wegen der Tonlage. Diese klang so gar nicht nach ihrer vertrauten Stimme. Es hörte sich eher nach einer unverhohlenen Drohung an. Nach einer Zukunft, die nichts Gutes verhieß, und nach einer bereits gefassten Entscheidung.

Mein Kommentar als Paartherapeutin

Liebe Leserinnen und Leser, jetzt könnte ich dazu schreiben, dass sich viele dieser Paare derzeit bei mir in Therapie befinden. Außerdem müsste ich anmerken, dass Annika schon viel eher etwas von ihrer Unzufriedenheit, und ihrer Abneigung gegen Sebastians Verhalten hätte preisgeben sollen. Sie gab ihm nicht die Möglichkeit darauf zu reagieren. Auch handelt es sich hier um ein vergleichsweise privilegiertes Paar. Beide sind weiterhin berufstätig, sind finanziell abgesichert, und verfügen immerhin wenigstens über ein Arbeitszimmer. Außerdem handelt es sich bei Sebastian um einen Vater, der seine Pflichten zumindest teilweise wahrnimmt. Trotzdem werden hier die Belastungen überwiegend auf Annikas Rücken ausgetragen. Sie nimmt das anfangs als ihre Aufgabe als Mutter und geringer Verdienende selbstverständlich hin, und entwickelt schließlich eine schleichende Abneigung ihrem Mann gegenüber.

Gibt es überhaupt noch eine Chance für dieses Paar?

Der Fortbestand dieser Ehe hängt maßgeblich von Sebastians Verständnis für Annikas Situation, und den Konsequenzen, die er daraus zieht, ab. Falls er jetzt mit Rechtfertigungen beginnt, könnte das das Ende der Partnerschaft bedeuten. Annika dagegen müsste ihm die Chance geben, ihre Nöte zu begreifen. Sie hat schließlich schon einen langen Ablösungsprozess hinter sich, in den sie ihn nicht einbezog. Partner sollten sich gegenseitig an wesentlichen Bereichen des Innenlebens teilhaben lassen. Je länger das ausbleibt, desto mehr stirbt das Liebesgefühl füreinander ab. Eine Reanimation ist nach langer innerer Abwesenheit immer unwahrscheinlicher.

Die Aufgabe des Paartherapeuten

Als Paartherapeut:in muss ich immer zuerst dem/der Trennungswilligen ungestörtes Gehör verschaffen. Der/die Andere muss aufmerksam zuhören, und darf keineswegs dazwischen reden. Genau dieser Punkt ist als Paartherapeut:in oft mühsam durchzusetzen. Bei unserem Fallbeispiel wird Sebastian sich durch Annikas Wut beschuldigt fühlen, und dauernd versuchen etwas in seinem Sinne zurecht zu rücken. Genau darum geht es aber nicht. Er wird Annika auch nicht durch noch so gute Argumente von ihren Gefühlen abbringen können. Er sollte versuchen sie zu verstehen, und ihr das auch glaubhaft vermitteln. Erst nach diesem Schritt kann er ihr Angebote machen. Als Paartherapeut:in sollte man gleich zu Beginn mit dem Paar einen Zeitrahmen aushandeln. Innerhalb dieser Zeit darf nichts entschieden, oder in die Wege geleitet werden, was eine Trennung begünstigt. Es muss eine ungestörte Phase sein, innerhalb der beide ihre Themen bearbeiten können. Der Ausgang dieser Entwicklungszeit muss offen bleiben.

Wie ging es bei diesem Paar weiter?

Annika und Sebastian gaben sich sechs Monate Zeit für ihre Entwicklung. Anfangs sprachen sie nur auf meiner Couch Wesentliches aus. Später vereinbarten sie zwei wöchentliche Termine, bei denen sie nach fairen Regeln miteinander über ihre Gefühle sprachen. Später begannen sie wieder mit ihren Dates, wobei Annika zunächst keine körperliche Annäherung zuließ. Das Arbeitszimmer erhielt statt der Gästecouch einen zweiten Schreibtisch, und wird von beiden genutzt. Für Calls wechseln sie sich im Arbeitszimmer ab. Sebastian und die Kinder übernehmen eigenverantwortlich Bereiche des Haushalts. Sebastian achtet auch zu Hause auf sein Äußeres. Und Annika? Sie lernte abzugeben und über ihre Gefühle zu sprechen, und stellte fest, dass das auch einen gewissen Machtverlust bedeutet. Es wurden in Zukunft nicht alle Aufgaben so erledigt, wie sie das von sich gewohnt war. Die Beiden haben es miteinander geschafft.