Gabriele Leipold im Interview im Publik-Forum EXTRA "Wahrheit und Lüge"

"Sei ehrlich" - Wahrheit und Lüge in der Paartherapie

 

Vielen Patienten fällt es schwer, gleich am Anfang ihre Probleme zu offenbaren, sagt die Paartherapeutin Gabriele Leipold

Von Hartmut Meesmann

Frau Leipold, eine Studie in den USA aus dem Jahr 2022 besagt, dass es viele Patienten in der Psychotherapie mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Oft werden Probleme verschwiegen oder verharmlost. Kennen Sie das auch aus Ihrer Praxis?

Gabriele Leipold: Durchaus. Es kommt aber darauf an, was man unter Wahrheit in der Psychotherapie versteht. Das ist jeweils abhängig von den Entwicklungsstufen, die Patienten in einer Therapie durchlaufen. Nicht in jeder Phase ist sofort Offenheit da oder möglich. Gerade am Anfang braucht es eine gewisse Anwärmzeit. Sie müssen als Therapeutin erst einmal einen guten Kontakt zum Patienten aufbauen, damit sich so etwas wie Ehrlichkeit einstellen kann, vor allem bei Menschen, die mit Scham- oder Schuldgefühlen kämpfen. Viel hängt also auch vom Therapeuten ab, ob Patienten sich öffnen und auf Verheimlichen, Halbwahrheiten oder Lügen verzichten können.

Aber Menschen kommen doch in die Therapie, weil sie ein psychisches Problem oder Beziehungsschwierigkeiten haben und Hilfe suchen – ob als Einzelne oder als Paar. Da müssten sie doch eigentlich ihr Anliegen und damit ihr Problem benennen können?

Gabriele Leipold: Eigentlich. Vielen Patienten fällt es jedoch schwer, gleich am Anfang ihre Defizite zu offenbaren. Zum Beispiel kommen immer wieder heterosexuelle Männer mit Beziehungsproblemen zu mir und wollen von mir als Frau erklärt bekommen, wie Frauen „ticken“. Sie tun sich in den ersten Therapiestunden aber schwer, sich ihre eigenen Defizite einzugestehen, die vielleicht maßgeblich zu den Problemen in ihrer Beziehung beitragen. Und deshalb benennen sie zunächst Vorstufen der eigentlichen Gründe, warum sie zur Therapie kommen.

Wie wichtig ist Ehrlichkeit in der Psychotherapie? Muss überhaupt immer alles gesagt werden?

Gabriele Leipold: Zumindest sollte das an Problemen zur Sprache kommen, was den Patienten bewusst ist, das heißt: was ihnen in der aktuellen Therapiesituation bewusst zugänglich ist. Ich muss ja als Therapeutin wissen, was meinem Gegenüber wichtig ist, was ihn oder sie quält, was er oder sie über die Krisensituation denkt, in der er oder sie sich befindet. Sonst kann ich ja nicht mit ihm oder ihr arbeiten.

Kann die Therapie scheitern, wenn eine Patientin zu viel an Informationen zurückhält oder Sie als Therapeutin das Gefühl haben, dass die Patientin Halbwahrheiten zum Besten gibt oder gar lügt?

Gabriele Leipold: Das kann passieren. Es gibt immer mal wieder Patienten, denen man jede einzelne Information gewissermaßen aus der Nase ziehen muss. Das ist natürlich mühsam. Ich thematisiere das dann auch. Denn es ist ja auch Zeit- und Geldverschwendung. Ich kann zwar manche Problematik erspüren, oft aber fische ich im Trüben. Diese Situation tritt vor allem dann auf, wenn zum Beispiel ein Mann von seiner Frau geschickt wurde – oder umgekehrt – und er in der Folge nicht motiviert ist, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Dann kann eine Therapie scheitern. Oder auch, wenn Menschen ihr Problem schildern und sodann von mir eine Art Rezept erwarten, wie sie das Problem lösen können. So einfach ist es nicht.

Welche Motive bewegen Menschen, in der Therapie mit der vollen Wahrheit hinterm Berg zu halten?

Gabriele Leipold: Das sind vor allem Scham- und Schuldgefühle, die Angst, in irgendeiner Weise bestraft oder verletzt zu werden. Deshalb greifen diese Menschen zu kleineren Notlügen, zum Weglassen, oder sie erzählen nur die halbe Wahrheit. Ganz anders ist es bei notorischen Lügnern, die in einer Art Wahn-Welt leben, da wird es dann pathologisch. Wenn Menschen zum Beispiel von einem Eifersuchts- oder Verfolgungswahn erfasst sind, haben sie in diesem Bereich eine völlig andere Wahrnehmung von der Realität als Menschen ohne diesen Wahn. Das ist dann eher ein Fall für den Psychiater.

In der Therapie geht es auch darum, Klarheit über sich und das eigene Leben zu erhalten, um etwas zu ändern. Muss man da nicht im eigenen Interesse die Bereitschaft mitbringen, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein?

Gabriele Leipold: Im Prinzip ja. Aber in den frühen Lebensabschnitten sieht man manches einfach noch nicht so klar wie in späteren Lebensphasen. Wenn man älter wird, kennt man sich schon besser und lebt vielleicht auch bewusster, so dass man ehrlicher mit sich selbst umgehen kann. Wer seine Schwächen kennt, kann sie eventuell auch besser akzeptieren und offen darüber sprechen.

Sie sind Paartherapeutin. Wenn zwei Menschen zu Ihnen kommen, weil es in ihrer Partnerschaft kriselt, dann ist es mit der Wahrheit ja wohl noch etwas komplizierter. Denn da müssen ja zwei Menschen nicht nur voreinander offen sein, sondern auch noch Ihnen gegenüber.

Gabriele Leipold: Ja, da ist die Situation schwieriger. Wenn ich ein Paar zu Beginn frage, warum beide gekommen sind, dann ist es oft so, dass beide Partner die Situation und die Gründe, warum sie gekommen sind, unterschiedlich darstellen. Dann springt sie plötzlich auf und ruft: „Du lügst!“ Oder er blafft zurück, dass sie alles völlig falsch darstelle. Ich versuche dann zu erklären, dass es sich um unterschiedliche Perspektiven auf ihre Paar-Situation handelt. Und jede Perspektive ihr Recht hat. Und es sich nicht um Lügen handelt. Ich bitte dann darum, in Ruhe zuzuhören, ohne einander abzuwerten. In den ersten drei Stunden ist es meist am anstrengendsten, weil die Partner sich oft gegenseitig beschuldigen und die Fronten verhärtet sind. Da braucht es Geduld und Vertrauen, bis sich mehr Ehrlichkeit und so etwas wie die Erkenntnis durchsetzt, das jeder seine eigene Wahrheit hat, und diese beiden Wahrheiten voneinander abweichen können.

Ein Kollege von Ihnen hat einmal formuliert, dass Patient und Therapeut im therapeutischen Prozess miteinander zur Wahrheit des Patienten finden, also zum Kern der Krisenproblematik, den es dann zu bearbeiten und positiv zu verändern gilt. Das gilt wohl auch für die Paar-Situation. Wie sehen Sie es?

Gabriele Leipold: Ich darf als Therapeutin die Patienten natürlich nicht beeinflussen, aber ich muss schon auch mitschwingen, ich kann nicht einfach neutral danebensitzen. Es entstehen im Therapieprozess gewissermaßen neue Wahrheiten. Ein Beispiel: Zu Beginn erklärt ein Paar, dass die Kommunikation zwischen ihnen nicht mehr funktioniere. Im Laufe der Therapie wird dann deutlich, dass die Kommunikation deshalb schwierig geworden ist, weil sie von unausgesprochenen Gefühlen mitbestimmt wird, die in der Therapie ausgesprochen werden können. Plötzlich wird deutlich, dass es um das Sexualleben des Paares geht, in das sich Unzufriedenheit geschlichen hat, oder um unterschiedliche Vorstellungen in der Kindererziehung, die Ärger auslösen. Diese Aspekte waren dem Paar zuvor nicht bewusst, sie haben aber die Kommunikation erheblich gestört. So entstehen neue Erkenntnisse und Einsichten, also neue Wahrheiten.

Fronten werden geklärt – im besten Fall?

Gabriele Leipold: Wenn Menschen streiten, sind Emotionen im Spiel. Gegenseitige Vorwürfe kommen aus tiefen Schichten der Psyche. Dann wird es meist ehrlich und mitunter auch brutal. Hier tauchen dann Wahrheiten auf, von denen der oder die andere nichts wusste.

Und wie entsteht dann ein neues Fundament, das ein Paar zusammenhält?

Gabriele Leipold: Die Chance für eine weitere Gemeinsamkeit als Paar ist dann gegeben, wenn im Laufe der Therapie wieder ein Gefühl für den Partner oder die Partnerin entstanden ist, das vorher aufgrund verhärteter Streitfronten nicht mehr vorhanden war. Wenn man sich nicht mehr vom Partner ständig angegriffen fühlt, sich nicht mehr ständig die Schuldzuweisungen des anderen anhören muss, dann kann man belastende oder störende Dinge eher ansprechen. Ohne die Fähigkeit zur Empathie geht es allerdings nicht.

In der bereits erwähnten US-Studie wurden auch über 600 Therapeutinnen und Therapeuten befragt. 81 Prozent erklärten, Patienten schon einmal direkt angelogen zu haben. Fast alle sagten, dass sie vor allem negative Gefühle wie Ärger, Enttäuschung, Frustration vor den Patienten verheimlichen würden. Wie halten Sie selbst es mit der Wahrheit? Wenn Ihnen ein Patient zum Beispiel ziemlich auf die Nerven geht?

Gabriele Leipold: Klienten anlügen das geht nicht. Diesen Anspruch habe ich. Man arbeitet ja sehr nah zusammen, die Patienten eine Unstimmigkeit sofort spüren. Allerdings ich muss vorsichtig vorgehen und meine Worte mit Bedacht wählen, um mein Gegenüber nicht zu überfordern. Ich kann in der Therapie alles ansprechen, es kommt nur darauf an, wie ich es sage und ob der Zeitpunkt passend ist. Nicht alles ist zu jeder Zeit ansprechbar. Als Therapeutin möchte ich ein Vorbild für meine Klienten sein und ihnen vorleben, wie man auch schwierige Themen angehen kann.

Wenn eine Therapie scheitert und Sie mit sich nicht zufrieden sind – können Sie das vor sich selbst und anderen eingestehen?

Gabriele Leipold: Ja,ich gestehe mir meine Fehler ein. Nur dadurch lerne ich für zukünftige ähnliche problematische Therapien dazu. Kritische Therapiesituationen kündigen sich ja meist schon im Vorfeld an. Auch begebe ich mich regelmäßig in Supervision. Ein Blick von von außen auf das jeweilige Therapiegeschehen hat schon einige Therapien vor dem Scheitern bewahrt. Aber nicht jede Partnerschaft kann gerettet werden. Manche Menschen begeben sich einfach viel zu spät in Paartherapie oder bringen psychiatrische Themen mit. Auch das gehört dann zur Wahrheit. Dafür bin ich dann nicht mehr zuständig.

 „Es braucht Geduld und Vertrauen, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass jeder seine eigene Wahrheit hat und diese Wahrheiten voneinander abweichen können.“ Gabriele Leipold

Gabriele Leipold arbeitet als Ehe-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis. Sie lebt in München.

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